ÖDIPP
Ein Auge zuviel ist ein Auge zuwenig. Ich kann damit Murmeln spielen und mir dabei zusehen. Das ist viel. Mehr, als dieser Teiresias kann. Ein leeres Auge sucht einen leeren Kopf. Ich möchte es aufschneiden und nachsehen, was fehlt. Wer setzt zusammen, was fehlt? Ich kann mich nicht erinnern, wie dieses Auge freikam. Es sieht mich an, als wollte es etwas sagen. Auch ich sehe es an, als wollte ich etwas sagen, es und ich sind nicht so weit auseinander. Mag sein, wir verstehen uns schweigend. Dennoch hätte ich gern gewusst, was dieses Schweigen bedeutet, denn einen Sinn muss es doch haben, wenn man sich so bedeutungsvoll anblickt.
ÖDIPP
Ich werde mir angewöhnen, durch dieses Auge zu sehen. Man sieht mehr, wenn das Auge freiliegt, hier, auf der Hand, oder auf einer Tischkante oder man wirft es in die Luft und fängt es wieder, das ist das Beste. Man sieht nicht wirklich damit, aber es ist geschwätzig und man erfährt alles, wenn man ihm lang genug zuhört. Kann sein, es hört mir zu und weiß mehr über mich als ich selbst. Das ist möglich, ich schließe es nicht aus. Ich spüre, dass Leben in ihm steckt, eine Art Leben, die ich nicht kenne, aber sie flößt mir Vertrauen ein und ich denke, es muss einen Grund geben, dass es sich mir in die Hand gegeben hat, nachdem es lang genug in mir steckte, nur um mir nichts zu verraten. Jetzt verrät es mir viel, die letzten Geheimnisse von Leuten, die sehr still sind und einem kaum unter die Augen kommen, solange sie nicht davon überzeugt sind, dass man blind ist.
ÖDIPP
Hat man mich fallen lassen? Ich weiß, einer, der mit seinem Auge spielt, wird nicht mehr ernst genommen. Sie spielen alle gern, aber was zu weit geht, geht zu weit, und das hier geht zu weit, das muss man niemandem erst erzählen, er weiß es ganz von alleine. Das einzige, was ich gewonnen habe, ist Zeit. Ich weiß noch nicht, wie ich sie ausgebe, am besten auf einmal, aber zum richtigen Zeitpunkt. Bis dahin gehört sie mir und ich möchte sie mit niemandem teilen. Mit dem Schlaf vielleicht, aber ich weiß noch nicht einmal, ob er jetzt überhand nimmt oder mich meidet. Eigentlich wollte ich immer schlafen, vielleicht sind meine Augen nach innen gegangen und jemand wollte sie mir gewaltsam nach außen drehen. Dem, der das versucht hat, möchte ich gern im Dunkeln begegnen, ich denke, er könnte ebenso gut seine Eingeweide außen tragen, dann hätten wir uns etwas zu sagen. Aber es ist schwer, sie zu unterscheiden. Sie verstecken sich vor mir, sie stopfen alles in ihren Körper hinein, als wüsste ich nicht, dass man es wieder herausholen kann, wenn die Zeit da ist.
ÖDIPP
Teiresias hat es gut, er beschaut seine Eingeweide und weiß Bescheid. Jedenfalls nimmt man ihm ab, was er sagt, man trägt es ihm nicht hinterher wie mir, um es wieder in ihn hineinzufüllen. Er ist eine Art Brunnen für die Leute, wer will, hält die Hand zwischen Stein und Stein und ist schon wieder gegangen. Ich kann mir nicht vorstellen, was er wirklich sieht, nicht einmal, dass er überhaupt etwas sieht. Es ist alles leeres Zeug, was aus ihm herauskommt. Ich dagegen kann nichts sagen, ohne dass es mich erschlägt. Die Leute sind nett, sie begnügen sich damit, belangloses Zeug zu reden, aber ich höre sie tuscheln und weiß Bescheid. Irgendjemand nimmt mich bei der Hand und führt mich. Das ist schön, ich wäre ihm gern dankbar dafür, aber ich misstraue ihm und weiß, dass er mich gern irgendwo hinunterstieße. Seine Freundlichkeit ist aufgeschobene Rache, ich weiß nicht wofür, aber er wird schon einen Grund finden. Am besten räche ich mich, solange mir Zeit bleibt. An wem? Wofür? Das sind ernste Fragen, sie beschäftigen mich schon eine Weile.
ÖDIPP · LAIOS
Du schon wieder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Weg uns jemals gemeinsam freigibt. Das Beste wäre, du wichest ein wenig zur Seite.
Was wäre damit gewonnen? Ich kann dir so wenig ausweichen wie du mir.
Er kann mir nicht ausweichen, ohne im Graben zu landen. Er muss weichen.
Dass Härte nichts ausrichtet, weiß ich schon lange. Wenn ich hart bleibe, dann geht das gegen mich selbst.
Diese Härte kenne ich. Sie imponiert mir nicht. Eher könnte man sie die Bereitschaft zum Kollaps nennen.
Der Moment, in dem man gegeneinander vorrückt, ist vielleicht das Beste am Leben. Er ist unverzichtbar. Der Überdruss daran ist der Überdruss am Leben selbst. Ich erkenne den, der mein Sohn sein könnte, und zögere.
Er kann nicht zurück. Er ist nicht mehr Herr über seine Reflexe und kann nicht zurück. Ich kann ihn auslöschen, also lösche ich ihn aus.
LAIOS · ÖDIPP
Ich sehe deinem Gesicht an, was geschehen ist.
Wenn ich etwas getan habe, dann musste es sein und ich schäme mich nicht.
Du sollst dich nicht schämen, sondern begreifen.
Ich begreife viel. Wenn es hier einen gibt, der nichts verstanden hat, dann bist du das.
Ich? Einer, der zufällig daherkam?
Und mir in den Arm fiel.
Ins Eisen, immer ins Eisen. Ich habe nie einen Sohn gewollt, weil ich um diese Unnachsichtigkeit wusste. Wir sind Kinder derselben Niederlage, wir haben sie nicht erlebt, aber wir spielen sie durch, unerbittlich, Wand gegen Wand. Wir könnten uns darüber unterhalten, wann das begann. Unter Wahrheitsfanatikern begann es früh. Unter Leugnern auch. Du lebst zwischen Menschen, die dir versichern, dass es darum nun wirklich nicht geht. Sie wollen etwas erreichen. Wer nichts erreichen will, weil er fühlt, was er ist, wird versiegelt. Ein Versiegelter darf keine Söhne haben, sie gehen über ihn weg.
ÖDIPP
Wenn ich diesen prähistorischen Ochsen gefällt habe,
dann geschah es ohne Absicht, beinahe ohne
Wissen. Das Vergangene zerfällt, wenn man sich ihm nähert, dazu
bedarf es keiner Absicht. Hätte ich die Absicht gehabt, ihn
zu töten, wer weiß, ob meine Kraft gereicht hätte.
Eigentlich war er mir überlegen. Er war nicht wirklich,
das ist die Lösung. Auch ich bin nicht wirklich, aber auf eine
andere Weise. Es ist auch nicht richtig zu sagen, wir hätten in
verschiedenen Wirklichkeiten gelebt. So etwas gibt es nicht.
Wirklich ist die Berührung. Ich hätte als Blitz auf die Welt
kommen sollen, dann wäre das alles genauer.
LAIOS
Dieser junge Mensch glaubt, er sei über mich hinweg.
Dabei ist er in mich hineingegangen, fast ohne zu zittern.
Es ist nicht leicht, einen Menschen zu durchqueren
und wieder zu verlassen, als sei nichts gewesen.
Es ist die Probe: Menschen gelingt sie nie.
Auch das zerstörte Bild bleibt das Zerstörte.
Was ist schon ein Bild? Etwas, dem man Opfer bringt.
ÖDIPP
Iokaste hat einen Sohn verloren, den muss ich ihr ersetzen.
Das wäre einfacher, wäre ich es. Einfacher, doch auch
schwieriger: kann ein Sohn einen Sohn ersetzen? Wenn sie
die Männer hasst, komme ich mir überflüssig vor, aber
ich kann sie verstehen. Es geht mir nicht viel anders als ihr.
Vielleicht bin ich deshalb ihr Sohn. Dieser Hass verrät mich,
er verrät sie. Ich frage mich, an wen.