Wer begreift, der begreift
mühelos, denn zu erklären
gibt es hier nichts. Der Strich im Gehirn,
der nicht weggeht, der das Einbehaltene trennt
von dem, was verhandelbar ist, der das, was oben steht,
obenan stellt, was auch geschieht, dieser Strich
existiert zweifach: als Waage
und Messer. Da schneidet sich mancher,
der glaubt, er müsse ein Gleichgewicht schaffen,
indem er, was unantastbar ist, stetig erweitert
oder willkürlich festlegt, weil eine Stimme ihm einspricht,
dass er zu kurz kommt. Das nennt man: sich hineinreden lassen
ins eigene Leben. Das nennt man
gründlich regiert werden, seinen Platz einnehmen
unter Menschen, die weg sind, wenn man sie braucht:
gründlich regierte
oder gründlich ruinierte
auf der Flucht vor dem Aus.
IOKASTE · TEIRESIAS
Es war nicht immer gefährlich für dich in diesem Haus.
Ich hätte die Löwen festgebunden.
Sogar die Sphinx hätte ich für dich entschärft.
Hättest du es gekonnt?
Du weißt nicht, was ich gekonnt hätte.
Du hast es überhaupt nicht wissen wollen.
Du meinst, weil ich Angst hatte?
Dass du mich das fragst.
Ich kenne da jemand, mit dem ich einmal lange Gespräche
führte.
Aber er soll sich nicht einbilden, alles käme
aus seinem Kopf. Ich habe aufmerksam zugehört,
das war alles.
Vielleicht hast du zugehört, vielleicht auch nicht.
Das Wort ›aufmerksam‹ wollen wir gleich streichen.
Es sei denn...
... mit Hintergedanken, das willst du doch sagen.
Vielleicht.
IOKASTE · TEIRESIAS
Wenn du so redest, können wir das Gespräch gleich beenden.
Ich komme ganz gut allein zurecht.
Das denke ich doch.
Warum hast du dann deinen Sohn
nicht gehen lassen, als noch Zeit dazu war?
Meinen Sohn? Das sagst du mir ins Gesicht?
Meinen Sohn? Welcher könnte das sein? Lass mich nachdenken.
Meinst du unseren Sohn? Ach den.
Ja, den hätte ich gehen lassen sollen.
Er war mir zuwider, wenn du das meinst. Ein bisschen zuwider.
Vielleicht musste ich ihn deshalb behalten.
Ein bisschen behalten.
War das so?
Du hast ihn dir geholt.
Er ist mir eines Tages ins Bett gekrochen
wie fast alles.
Wie fast alles.
IOKASTE · TEIRESIAS
Das ist seltsam.
Ich meine im Leben.
Ein anderes kenne ich nicht.
Ich meine, ich hätte gern eins
gehabt, ein anderes Leben.
Du hast es gehabt.
Ich weiß. Du glaubst: Im Bett.
So eine kleine Heuchelei
wärmt die Toten.
Das ist ein kaltes Volk.
Ich muss immer an sie denken.
IOKASTE · TEIRESIAS
Geh weg, geh weg aus meinem Haus.
Du sollst weggehen, verstehst du? Ich will,
dass du da nicht mehr stehst,
dass die Stelle leer ist,
an der du stehst, sofort.
Und wenn ich weggehe?
Und wenn die Stelle, an der ich jetzt stehe,
leer ist? Was hast du dann gewonnen?
Das zu fragen steht dir nicht zu.
Ich werde dich hinaustragen lassen,
ein Bündel Stroh. Man könnte dich anzünden,
du wärst weggebrannt wie nichts.
Die alte Hoffart. ›Man sagt,
wenn sie sich aufregt, glänzt ihr Geschmeide.‹
Das ist wie Silberputzen, nehme ich an.
Du, kein Zweifel, bist mir begegnet.
Oder doch Zweifel? Die Hand,
die die andere wäscht, mit welchen Wassern
auch immer, aus welchen
Röhrensystemen auch immer, das bleibt
vorderhand, wie es unter der Hand
bleibt, dunkel, während es
sie überrieselt. Leicht darüber
hinweggeht, so sagt man, das schafft den
bleibenden Eindruck.
Wie weit ging das, Iokaste? Wie weit
bist du gegangen, damals und später?
Wie weit willst du gehen?
Wann, unter uns, begann die Berechnung? Ich weiß, das ist
eine dumme Frage, mit der man Spötter
hervorlockt. Doch bleibt das Lachen
tief in der Gurgel ... stecken, wie man so sagt.
Dort klemmt es, ein Brocken,
der nicht mehr weggeht, es sei denn, er bricht
einmal zum Fürchten hervor
auf einem Blutschwall, das will
keiner, das möge der Alltag
verhindern, in dem alles rasch
hintereinander weggeht, in dem
ein Husten den andern verdrängt, als sei für alle
kein Platz auf der Leine. Schnell kommt
in den Trockner, was, in den Wind gehängt,
effektvoll sich bauschte, eh man es abnahm.
IOKASTE · TEIRESIAS
In welcher Welt lebst du eigentlich?
Auf die Frage habe ich gewartet.
Das Gute ist, man muss
nicht sehr lange warten und sie kommt immer.
Natürlich.
Ich lebe in deiner Welt und in meiner,
das sind schon zwei. Immerhin.
Es gab andere, die jetzt tot sind,
es gab –
Darüber mach dir keine Sorgen. Wenn ich einmal tot bin,
dann lebst auch du nur noch in einer. Endlich angekommen,
das freut mich riesig für dich, aber jetzt muss ich schlafen.
Gute Nacht, Täubchen.
IOKASTE · TEIRESIAS
Wenn du mich verspotten willst,
dann such dir einen besseren Zeitpunkt aus.
Wir haben viel gearbeitet,
die Nächte sind kurz.
Nicht so kurz wie ein Tag.
Ich weiß, welchen Tag du meinst,
damit bringst du mich nicht aus der Ruhe. Du täuscht dich
übrigens.
Ich könnte andere Tage anführen, aber lassen wir das.
Diese Dinge sind sehr sehr lange her, sie belasten
bloß das Gedächtnis. Andererseits, was wären wir ohne
unsere Erinnerungen. Noch einmal anfangen
würde ich schon gern. Diesmal müsste es
schneller gehen, an manchen Stellen auch langsamer.
In Wahrheit können mir alle gestohlen bleiben.
Ich wäre nicht Schauspielerin geworden,
hätte ich kein Talent gehabt.
So ein Krönchen wiegt im Grunde leicht.
Wenn die Königskobra sich wiegt,
ist Gefahr im Verzug. Aber lassen wir das.
Du kannst das Ungeheuer ruhig schlafen schicken, vielleicht
redet es sich dann...
Leichter?
TEIRESIAS · IOKASTE
Ich meinte genauer. Oder richtiger. Oder redlicher.
Jedenfalls mehr zur Sache.
Du willst endlich zur Sache kommen. Das ist gut.
Darauf haben wir lange warten müssen.
Du hättest ruhig früher damit anfangen können, jetzt ist es
ein bisschen spät. Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben.
So etwas spricht sich, das Gesicht ins Dunkel gehalten,
wie von allein. Stimmts? Mach dir keine Hoffnungen.
Wollte ich dich eines Verbrechens anklagen, ich hätte den
anderen Weg gewählt. Ein Weg, einen Menschen
anzuklagen, findet sich immer.
Doch, ich klage dich eines Verbrechens an,
unter vier Augen. Das ist, wie du weißt, eine Redensart,
sonst nichts. Lassen wir die Augen beiseite.
Du klingst sehr griechisch, Seher, ich verstehe, was du
meinst.
Lass uns griechisch reden. Das ist eine Sprache,
die zu uns passt. Ich mag es, wenn du damit vor mir
paradierst.
Das hat mir gefehlt.