TEIRESIAS · IOKASTE
Ein Kämpfer, der sich die Haut in Streifen schneidet,
um seine Fäuste zu bandagieren, riskiert viel.
Warum zieht er nicht dem Gegner die Haut ab,
bevor er in den Ring klettert? Das ist bequemer
und bietet noch andere Vorteile.
Aber wer nicht drauf kommt, dem ist nicht zu helfen.
Ich sehe ihm zu, wie er sein Handwerk ausübt.
Er tut es ein letztes Mal, es reut ihn nicht, was er tut,
er ist zu sehr damit beschäftigt, genau zu sein,
um Einflüsterungen Gehör zu geben.
Vielleicht weiß er nicht, was er tut, vielleicht füllt ihn
eine Art Abwesenheit aus, eine sehr anwesende Abwesenheit,
aber das ist eine Hypothese, die vielleicht nur der
Eigenliebe
von Menschen dient, die nicht gemeint sind.
IOKASTE · TEIRESIAS
So abwesend ist niemand, das hätten sie gern.
Ich wundere mich, dass du so naiv bist.
In unserer Jugend hätte man dich dafür ausgelacht.
Du hast recht. Was an einer Abwesenheit echt, was gespielt
ist,
entscheidet der Vorteil.
Man muss auf den Kampf sehen, nicht auf die Zustände.
Die Zustände sind ein Teil des Kampfes.
Wer keine Zustände hat, sollte sich gleich zurückziehen.
Ich erinnere mich gut an deine Zustände.
Besser, du würdest dich an deine Zustände erinnern.
Ich –
Dein Gedächtnis hat schon immer etwas selektiv gearbeitet.
IOKASTE · TEIRESIAS
Nichts für ungut, aber...
Nichts für ungut? Das ist eine seltsame Phrase
aus deinem Mund. Sie erinnert mich daran,
wie es war, als ich nichts für ungut nehmen konnte,
was von dir kam. Nichts für ungut, aber es hätte
mich damals fast das Leben gekostet.
Ich sehe doch, wie lebendig du heute bist.
Wäre ich nachtragend, so würde ich sagen:
Das verdankst du mir. Aber ich will nicht anmaßend sein
und begnüge mich festzustellen,
dass von uns beiden ich den kürzeren gezogen habe,
immer. Das war so und dabei
sollten wir es belassen.
TEIRESIAS · IOKASTE
Ich sehe viel. Sagen wir: ich sehe mancherlei,
was andere nicht sehen, dafür
sehe ich manches nicht,
was gerade vor meiner Nase liegt. Das war nicht anders
zu der Zeit, die man wohl die unsere nennen muss,
bevor du hoheitsvoll wurdest.
Das wurde ich und das bin ich noch heute.
Dass du das nicht verstehst, zeigt nur,
wie blind du bist.
Ganz blind, Hoheit, das lässt sich nicht ändern.
Und es zeigt, wenn ich das noch sagen darf,
dass du niemals bereit warst, dein Leben mit mir zu teilen.
Ich war bereit, o ja, ich war bereit,
es gab eine Zeit, da wäre ich mit dir
überall hingegangen. Dass das vorbei war,
hast du dir selbst zuzuschreiben wie so vieles
andere, worüber wir einmal reden müssten,
wenn du die Zeit dafür aufbrächtest.
TEIRESIAS · IOKASTE
Lass uns fortgehen, fort, fort –
daran erinnere ich mich gut.
Du wolltest mein Leben teilen, nicht deines.
Ist da ein Unterschied?
Du hast mein Leben für dich gefordert,
denn du hattest nur eines, wie du sagtest.
Ich habe nur ein Leben, das sage
ich heute wie damals.
Ich weiß. Du hast nur ein Leben, aber
du brauchst viele.
Du hast nur ein halbes Leben, deshalb verlangst du,
dass andere das ihre dazu legen.
So hast du es damals gehalten,
so hast du Pappkrone zerstört und so
unseren Sohn.
IOKASTE · TEIRESIAS
Das sagst du. Ich habe ihm das Leben ermöglicht,
das du ihm vorenthalten hast, weil du
nicht erreichbar warst, wenn er dich brauchte.
Widersprich mir nicht! Wie oft,
wenn Not am Mann war, musste ich mir
von ihm Sätze anhören, die zeigten, wie sehr er dich nötig
hatte.
Es gibt Dinge, die nur ein Vater –
Nur ein Vater? Nur einer? Von einem
erwachsenen Mann, der mit
seiner Mutter ins Bett geht und wieder aufsteht,
der ihr den Haushalt führt und ihr
die Nase putzt, wenn sie ihre Krise nimmt?
IOKASTE · TEIRESIAS
Du weißt nicht, wie sehr
du dich ins Unrecht setzt, wenn du so redest.
Ich weiß, wie sehr
du dich ins Unrecht gebracht hast. Ich weiß auch,
wie sehr du mich hassen musstest,
um so handeln zu können.
Bilde dir da nur nichts ein.
Ja, ich habe dich gehasst.
Warum sollte ich es leugnen.
Gut. Dann wären wir einen Schritt weiter.
IOKASTE
Das sagst du. Dann höre mich:
Ich habe dich gehasst dafür,
dass du mir überlegen warst, dafür,
dass du wusstest, was du von deinem Leben wolltest, dafür,
dass du wusstest, was für dich richtig war
und für mich, dafür,
dass du mich nicht geschlagen hast, als deine Hand zuckte,
dafür,
dass ich nach deiner Kehle greifen konnte, ohne
dass du dich wehrtest, dafür, dass du mir glaubtest,
was ich dich glauben machte, dafür,
dass du nie begreifen konntest, was Spiel war
und wo der Ernst begann, dafür,
dass ich dich belügen musste über die Person,
die ich war.
Dafür habe ich dich gehasst.
TEIRESIAS
Du hast dein Leben zerschnitten
in eine obere und in eine untere Hälfte.
Du hast, was dir wichtig war, nach und nach
in die obere Hälfte getragen, bis unten
nur ein Tisch und ein paar Stühle herumstanden,
windschief, wie sollte einer da essen
und schlafen?