TEIRESIAS · IOKASTE
Du hattest einen Vater.
Ja, ich hatte einen Vater und er hat mir viel geholfen.
Ich weiß nicht, wie ich es ohne ihn geschafft hätte.
Er hielt mich für den Gottstehmirbei.
Er hielt dich für alles Mögliche.
Das ist eine Sache unter Männern.
Da halte ich mich heraus.
TEIRESIAS · IOKASTE
Du irrst, das ist keine Sache unter Männern.
Das ist eine Sache zwischen uns.
Solange du ihn ablehntest, war ich recht.
Als du gelernt hattest, ihn zu ertragen,
fiel es dir schwer, in mir mehr zu sehen
als einen Ersatz. Denn das war ich: Ersatz
für einen Säufer, der mich vor dir gewarnt hatte.
Das habe ich ihm sehr übel genommen.
Und dafür gesorgt, dass er recht behielt.
TEIRESIAS · IOKASTE
Du hast ihn zu dir genommen –
– nach dem Tod meiner Mutter –
Nein, viel früher. Du hast ihn zu dir genommen,
als du begriffst, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand.
Du konntest gefahrlos zwei Männer haben,
denn dass er die Frau in dir suchte, das wusstest du
seit deiner Kindheit. Mit ihm brauchtest du nicht ins Bett
gehen,
dazu waren die anderen gut.
Dass du dir alles zurechtlegst,
das macht mir Angst,
seit ich dich kenne.
Wenn ich daran denke,
wie dieser Mann gelebt hat –
ich finde dich hart.
TEIRESIAS · IOKASTE
Hat einer, dessen Leben zerstört ist,
das Recht auf ein zweites? Und wenn,
woher nehmen? Keiner hat ein Leben zuviel,
nur die Zerstörung geht weiter.
Ich weiß nicht, was sein Leben zerstört hat.
Das lag vor unserer Zeit. Ich habe darüber kein Urteil.
Aber er war mein Vater und die Zerstörung ging weiter
im Haus meiner Mutter. Das habe ich gesehen und das
musste ich ändern.
TEIRESIAS
Jaja. So wurdest du süchtig.
So wie wir alle ein bisschen süchtig wurden
in dieser Zeit, die so restlos vergangen ist, dass wir
dastehen,
als habe es uns nicht gegeben,
die aber nicht so restlos vergangen ist,
dass wir sagen könnten, wir lebten heute
in einer anderen Zeit. Eher leben wir
ein Gespensterleben zwischen den Zeiten.
Man kann nur hellsichtig sein
oder bösartig.
IOKASTE
Wenn ich süchtig wurde,
wie du sagst – und ich weiß nicht,
ob du damit recht hast, mein Gefühl
sagt mir etwas anderes –, dann
nicht, weil die Zeit war, wie du sagst,
sondern weil ich es nicht ertragen habe,
neben dir zu leben wie eine, die nicht in Betracht kommt –
lass es mich sagen, nein, unterbrich mich
nicht jetzt, nicht diesmal, an dieser Stelle:
neben dir wäre ich nie in Betracht gekommen,
du warst sehr weit weg, wenn du da warst.
Vielleicht hättest du mehr weg sein müssen,
um da zu sein.
TEIRESIAS
Es gab Zeiten, da war ich weg.
Und wenn ich wiederkam, warst du nicht da.
Und wenn du da warst, warst du dennoch nicht da.
Und wenn du dennoch da warst, dann
um mich in die Enge zu treiben,
in eine Enge, von der ich keinen Begriff hatte,
bevor ich dich kannte, von der ich auch später
keine Vorstellung hatte, nur die Empfindung
von etwas, das da war und nicht weggehen wollte,
solange du da warst.
IOKASTE · TEIRESIAS
Vielleicht weil es in mir eng war,
wenn ich dich sah.
Du hättest mich weiten können, so eng war ich nicht,
als wir uns trafen. Warum musstest gerade du mir
über den Weg laufen? Ein Beliebiger wäre
der Richtige gewesen. Man vögelt nicht ungestraft
mit einem Blinden.
Man tut sich nicht ungestraft
mit einer zusammen, der jeder recht ist.
Nein, das habe ich nicht gesagt.
Ein Beliebiger – das habe ich gesagt.
Weil du beliebig bist und weil du
mich für einen Beliebigen hieltest, als du mich trafst
einen Vertrauenerweckenden, den du angehen konntest,
weil du etwas brauchtest...
Das ist eine Lüge.
TEIRESIAS · IOKASTE
Das ist die Wahrheit. Ich wusste es und
ich wusste es nicht. Später habe ich es gesehen:
immer wenn du etwas brauchtest, brauchtest du
einen Mann. Wenn keiner zur Stelle war oder
du dir eine Abfuhr geholt hattest, fragtest du mich.
Oder du wurdest krank.
Das ist eine Lüge.
Dann lass es eine sein. Besser es so
stehen lassen als darüber schweigen. Dieses Schweigen
dauert zu lange. Es hat
zu viele Väter, sie stehen Schlange
nach dieser Ehre.