TEIRESIAS
Mein Auge,
das vieles sah, was es nicht sehen wollte,
gibt den Ausschlag.
Sehen am Leitfaden des Auges.
Des erloschenen wohlgemerkt, denn anders
siehst du gerade nicht, was vorgeht, nur das,
was geschieht. Es geschieht aber immer und du
kennst nicht die Regel. Darum hindert das Sehen am Sehen.
Weglassen, was von allein
keiner weglässt, dazu bedarf es
der Amputation. Was für das Auge gilt, das
gilt für den Sohn. Du hast ihn und hast ihn nicht.
Er ist in dir erloschen, dafür
solltest du dankbar sein, doch der Adressat
bleibt im Dunkeln. Das Phantom schmerzt nicht, nur grobe
Menschen
reden so. Das Phantom redet, es redet ununterbrochen
über den Zustand, sagen wir,
der Welt, weil es so klingt, als bräuchtest du
ein Dach über den Kopf, bevor es Nacht wird und die Ameisen
dich wegtragen, wie sie es immer tun.
So ist es nicht. Lieber würdest du weggehen.
Das ist ein Impuls,
den viele spüren, auch,
dass er nichts trifft außer den Nerv.
TEIRESIAS
Ich habe gesehen. Das klingt
nach dem, der spricht. Ein wenig Stolz spricht daraus,
ein wenig Verachtung. Dummheit auch, denn keiner
hat gesehen, was ihn berechtigt,
so zu reden. Wer sich abwendet, der
will abwenden, was sich nicht abwenden lässt.
Also wechselt er
die Perspektive.
Spannender die Fälle,
in denen die Perspektive selbst
sich plötzlich wendet und Schicksal spielt:
ein Scheusal, nicht ohne Verstand, auch
wenn es einem fast den Verstand raubt. Warum auch zwei,
wo einer hinreicht? Es geht doch.
Nur was daran plötzlich war,
das bleibt nicht liegen, es löst sich
unter der Hand, bis es alles durchdringt.
Erschreckend ist das alles: So reden viele, die eben
noch Kraft besaßen und nun
erkennen müssen, dass sie ein anderer wegnahm.
IOKASTE
Dieser Mensch ist blind.
Ich muss ihm die Augen öffnen.
Doch ich sehe nicht,
wo das hinführt.
Besser ist es, er bleibt
in diesem Zustand, den er sich selbst gewählt hat
oder ein anderer, wenn nicht er, für ihn,
vermutlich ist es sein Schicksal.
Ich weiß, das klingt hart,
aber die Zeiten sind so und ich
bin es auch. Ich habe mir etwas
aufgebaut. Ja, ich bin hart geworden
und stehe dazu. Man muss weit blicken, bloß
um von hier nach da zu kommen. Und ich will weiter,
das meine ich jetzt ganz ehrlich.
Der Boden ist kalt, auf dem ich stehe.
Da will man weiter. Wie lang meine Füße das mitmachen,
weiß ich nicht. Solange sie tragen,
müssen sie mich schon ertragen. Die Regel gilt.
Es gibt auch schöne Momente. Auf Keos zum Beispiel
lief das Spiel gut. Dafür lebe ich gern.
TEIRESIAS
Ich höre ganz gut. Ich höre auch das Gemurmel
der Brandung, der man so leicht
keine menschliche Äußerung entreißt.
Ich habe verstanden. Sie haben das Spiel geändert,
damit deinesgleichen mitspielen konnte.
Ich sage deinesgleichen, auch wenn ich
einmal du zu dir sagte, bevor dich
eine Gerölllawine begrub. Das Geröll bist du,
es brach aus dir hervor und begrub dich
vor meinen Augen. Damals sah ich gut,
sehenden Auges, denn ich sah dich, nichts sonst.
Also sah ich dich nicht. Also begrubst du dich
vor meinen Augen. Da war ein Schmerz in der Luft,
ich konnte ihn anfassen an bestimmten Tagen,
an anderen wich er mir aus. Auch das
kam mir merkwürdig vor. Ich prüfte die Luft.
Sie sagte mir nichts. Vielleicht prüfte sie mich und ich
erfuhr
nie das Ergebnis.
IOKASTE
Jetzt murmelt er nur noch, das kenne ich gut
von früher. Ja, ich bin deutlich geworden.
Etwas anderes kann ich mir nicht leisten.
Ich will es auch nicht. Es fühlt sich gut an,
deutlich zu sein. Das mag deuten, wer will.
Früher spielten wir das Verstehmichspiel.
Ich hatte viele, die mich verstanden.
In diesem Spiel warst du nicht besonders gut.
Das imponierte mir, vielleicht war ich auch stolz darauf,
dass ich mich auf dich verstand. Heute verstehe ich dich,
aber das macht mich nicht stolz. Eher erfüllt es mich
mit Unbehagen. Wo ich fertig bin, bist du es nicht.
TEIRESIAS · IOKASTE
Bist du fertig? Dann lass mich
reden oder verschwinden, nur lass
endlich los, was dich nicht hält und verschwinde selbst,
da dich nichts aufhält, dorthin,
wo man dich kennt. Nur lass los,
was dir nicht gehört, weil es
niemandem gehören darf außer sich selbst.
Wärest du so wie ich, müsste ich dich nicht achten,
aber der Krieg zwischen uns
hätte etwas Versöhnliches. Er wäre ein Band, sozusagen.
So gehört es sich. Anders
gehört es sich nicht. Du verstehst mich nicht,
auch gut. Darum habe ich dich gewählt.
Die Schlinge um deinen Hals
glänzt in der Sonne. Ich kann dein Gesicht
deutlicher sehen, wenn ich sie
ein wenig anziehe.
TEIRESIAS
In den Zeiten der Hoffnung
verstanden wir nicht, dass wir uns auslieferten
mit Haut und Haar. Wir sahen nicht,
wie schlecht das gedacht war,
was man uns hinhielt, um unser Leben
daraus zu schöpfen. Zwei Leben
hätten wir nötig gehabt, eins, um zu testen,
ob es auch geht, wie es geht, und ein anderes,
um heil herauszuschlüpfen aus einer Geschichte,
die sich anschickte, uns zu verderben,
wie sie die Väter verdarb und jetzt den Sohn.
IOKASTE
Das ist wahr, aufs Durchschlüpfen habe ich mich verstanden.
Nicht sichtbar zu sein ist eine Gabe, die viele sich
wünschen.
Man darf sich nicht zu sehr
unterscheiden, in sich, meine ich, mir
kam es immer so vor, als sei ich wie alle, nur kürzer, es lag
alles in meiner Reichweite. Ich brauchte nur hinzugreifen,
wo andere sich streckten. Das war
nicht sichtbar für sie. Das konnten sie nicht verstehen,
wenn es zu spät war. Es war aber zu spät,
sobald es geschehen war,
keinen Augenblick früher. Vielleicht gab mein Körper
nichts anderes her.
TEIRESIAS
Unten den Sehenden
ist der Einäugige König. So machte es Pappnase,
so macht es jetzt Ödipp. Er spielt den König,
indem er ein wenig Licht ins Dunkel bringt,
das ihn trägt. Schon trägt es ihn nicht mehr. Schon
ist das Dunkel ebenso fadenscheinig
wie das Licht, das von ihm ausgeht. Schon
steht er nackt vor der Kleinen, die ihn
leichter durchschaut als andere, weil sie
ihn gern achten würde, aber nichts vorfindet,
was sie achten könnte. Schon senkt sich der Weg
unter seinem Fuß, denn er hat es leichter,
wie man ihm sagt. Er fühlt sich gebettet,
wie man ihm sagt. Das ist sein
gutes Recht wie das ihre,
das sie sich nimmt, wann immer
ein Stück abfällt vom Baum der Erkenntnis.